2017: Titelstory in der WirtschaftsWoche 21/2017 vom 19.5.2017 über das „lahme Netz und Lücken in der Cyber-Abwehr“ in Deutschland

Bei den Abgehängten

Der Mittelstand hofft, mit dem Internet 4.0 den Durchbruch ins Digitalzeitalter zu schaffen. Dafür bräuchte er schnelles und vor Cyberattacken sicheres Internet. Beides ist derzeit eine Illusion in Deutschland.

Wenn Mittelständ ler und Manager aus dem Internetalltag in der Bundesrepublik Deutschland berichten, tun sie das in diesen Tagen nur anonym, dafür aber drastisch: Vor drei Wochen etwa dringt ein Hacker in die Fabrik eines Mittelständlers ein und legt für drei Tage und Nächte die Produktion lahm. Die mit dem Internet verbundenen Maschinen sind so schlampig geschützt, dass der Saboteur leichtes Spiel hat - und das gesamte Geschäft des Unternehmens stoppt. Lehren aus dem Krisenfall aber zieht in der Firma niemand, die Fabrik ist immer noch digital ungeschützt.

Eine Woche später dann wundert sich ein anderer Unternehmer irgendwo in Deutschland über merkwürdige Abbuchungen auf dem Firmenkonto. Eine Schnellanalyse ergibt: Hacker sind in das Zahlungssystem eingedrungen, haben Kundendaten und Kontonummern manipuliert. Einem Mitarbeiter fallen die ungewöhnlichen Kontobewegungen eher zufällig auf, so wird Schlimmeres verhindert.

Und kurz darauf, am vergangenen Wochenende, schließlich verbreitet sich die Erpressersoftware WannaCry um die Welt. Bei der Deutschen Bahn fallen Anzeigetafeln aus, in Großbritannien stellen Krankenhäuser ihren Betrieb ein, bei Renault stoppt die Produktion. Die Angreifer verlangen Lösegeld, um die Systeme wieder freizugeben.

Und so zeigt sich für die breite Öffentlichkeit, dass die Geschäftsmodelle vieler Unternehmen nicht nur immer digitaler, sondern auch immer anfälliger werden. Die Digitalisierung präsentiert sich in Deutschland in diesem Frühsommer 2017 nicht als verheißungsvolle Zukunft, sondern als echte Gefahr für viele Unternehmen. Und das ist kein böser Zufall, das ist - von Politik, aber auch Teilen der Wirtschaft - hausgemacht.

Nach langem Zögern haben deutsche Unternehmen, vor allem der Mittelstand, erkannt: Die vernetzte Produktion, die Industrie 4.0, ist die nächste Stufe der digitalen Revolution, bei der Exportweltmeister Deutschland international wieder zur Spitze aufschließen kann. In der Vernetzung von Maschinen, Robotern und 3-D-Druckern schlummert laut IT-Verband Bitkom eine Produktivitätssteigerung von 78,5 Milliarden Euro bis 2025 für die deutsche Wirtschaft. Nachdem die erste Runde der Digitalisierung voller neuer Geschäftsmöglichkeiten mit Privatnutzern an die amerikanischen Netzkonzerne ging, sind beim Internet der Dinge deutsche Ingenieurtugenden gefragt.

Doch die nächste industrielle Revolution gelingt nur, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Schnelles Internet muss gleichmäßig übers Land verteilt sein. Und dieses Netz muss sicher sein. Beides aber, das wird nun klar, ist derzeit in Deutschland nicht gegeben. Nach einer Studie der Sicherheitssoftwarefirma Symantec ist Deutschland europaweit der größte Gefahrenherd im Cyberspace. Und das Netz ist auch zu langsam. Beim EU-Index für digitale Wirtschaft liegt Deutschland nur auf Platz elf und ist zwei Plätze im Vergleich zum Vorjahr abgerutscht. Laut EU ist Deutschland eines der Länder mit den geringsten Fortschritten bei der Digitalisierung. 23 000 Gewerbegebiete im Land haben keinen Anschluss ans schnelle Glasfasernetz.

Das wäre womöglich verkraftbar, wenn in Berlin die klügsten Digitalvordenker einen Masterplan vorbereiteten. Aber auch hier Fehlanzeige: Ausgerechnet Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) torpediert in diesen Tagen eine EU-Initiative, die Funkfrequenzen für den Ausbau schneller Mobilfunknetze europaweit koordinieren will. In Sachen Glasfaserausbau behindern Kompetenzstreitigkeiten den Fortschritt, und in Sachen Sicherheit hinken die zuständigen Behörden genauso hinterher wie viele Unternehmen. Und so zeichnet sich eine Tragödie in zwei Akten ab.

1. Akt: Die große Unbedarftheit

Nicolas Krämer, Chef des Lukaskrankenhauses aus Neuss, hat längst die digitale Krankenakte eingeführt, Maschinen und Geräte vernetzt und sogar die Fernvisite per iPad eingeführt. Das alles in einem Betrieb mit 120 Millionen Euro Umsatz und 1800 Mitarbeitern. Dass er dafür nicht nur belohnt werden würde, erlebte er nach Karneval 2016. „An jenem Tag schmierte zuerst der OP-Planer ab“, sagt Krämer. Als bald darauf Hinweise auf eine Erpressersoftware auf einzelnen Computern im Netzwerk erscheinen, reagieren der Krankenhauschef und sein Team schnell: Sie fahren das komplette IT-System herunter. „Wir haben sozusagen den Stecker rausgezogen, um die Patientendaten zu schützen“, sagt Krämer.

Gut drei Wochen arbeitet die IT-Abteilung gemeinsam mit Experten des Landeskriminalamtes sowie des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), bis die Kern-IT wieder läuft. Dennoch summiert sich der Schaden auf eine Million Euro, der Großteil davon für Beratungshonorare. Der E-Mail-Server war das Einfallstor für den bis dahin unentdeckten Virus. Gemeinsam mit den BSI- und LKA-Experten organisierte man die Abwehr.

Damit ist Krämer eine Ausnahme. Die Cyberbedrohungen sind gewaltig und nehmen zu, aber die Mehrheit der Opfer schweigt. Und hilft so den Hackern, ihre Viren noch schneller zu verbreiten. Womöglich soll die Vertuschung das eigene Fehlverhalten verbergen: Die deutsche Industrie, vor allem Mittelstand und kleine Unternehmen, fährt durchs Netz als würde sie auf der Autobahn mit dem Motorrad ohne Helm, Gurt und Licht auf die Überholspur wechseln. Neun von zehn von TNS Emnid im Auftrag der Unternehmensberatung KPMG befragten Firmen geben etwa an, dass sie für deutsche Unternehmen ein hohes oder sehr hohes Risiko sehen, Opfer von Cyberkriminalität zu werden. „Dass aber das eigene Unternehmen gefährdet sein könnte, glaubt nicht mal jeder zweite Befragte“, staunt KPMG-Sicherheitsexperte Michael Sauermann. Dabei entstehen der deutschen Wirtschaft durch Cyberangriffe jährlich Kosten von geschätzt 54 Milliarden Euro. „Gemessen am Bruttoinlandsprodukt, ist Deutschland das am stärksten betroffene Land der Welt“, sagt Jörg Wälder, Senior Executive bei KPMG. WannaCry hat diese eigentlich längst bekannte Schwäche nur noch mal besonders vor Augen geführt. Die Schwachstelle, die die Hacker ausnutzten, war seit Mitte März bekannt. Nahezu zeitgleich hatte Microsoft eine Reparatursoftware veröffentlicht. Doch bei der Installation des sogenannten Patches haperte es: Schon einen halben Tag nach dem ersten Auftreten von WannaCry hatte das BSI Kenntnis von rund 650 Schadensfällen - die Zahl der betroffenen Computer dürfte in die Zigtausende gehen.

Der Krefelder Wirtschaftsjurist Wilhelm Klaas beschäftigt zwei Administratoren, die sich um die Systeme seiner Wirtschaftskanzlei Klaas & Kollegen kümmern. Und hier ist stets allerneueste Antivirensoftware im Einsatz. Als aber zwei Mitarbeiterinnen sich im Oktober 2016 morgens in der Kanzlei verabredeten, um eine interne Schulung vorzubereiten, ließen sich die Rechner nicht starten. Als der System-Administrator wenig später per Fernzugriff feststellte, dass die Computer verschlüsselt worden waren, brach Alarmstimmung aus. Die Mitarbeiterinnen kappten sofort alle Verbindungen ins Internet, zogen die Netzstecker an Arbeitsplätzen und Servern.

Der Erpresservirus JohnyCryptor hatte zugeschlagen und kündete auf den Bildschirmen von dem erfolgreichen Angriff: „Nun sind alle Ihre Daten verschlüsselt“, stand dort auf Englisch. Es gebe nur einen Weg, um wieder Zugriff zu erhalten. Klaas sollte mit den Hackern per Mail Kontakt aufnehmen und sieben Einheiten der Krypto-Währung Bitcoin - damals rund 4900 Euro - Lösegeld zahlen. Anschließend, so versprachen die Erpresser, würden sie ihm den Entschlüsselungscode zusenden. Der Anwalt ließ sich darauf ein, holte aber IT-Sicherheitsberater dazu und kommunizierte über eine anonyme E-Mail-Adresse mit den Hackern.

Die Kanzlei erhielt nach dem Bitcoin-Transfer Zugang zu einem Entschlüsselungsprogramm. Darin entdeckten Klaas' IT-Experten eine neue Gefahr: Spionagesoftware. Erst als die Spezialisten das Ausspähprogramm eliminiert hatten, startete die Entschlüsselung. Zehn Tage nach dem Angriff liefen die Systeme der Kanzlei wieder. Neben dem Lösegeld fielen rund 13 000 Euro an IT-Beratungskosten an. Immerhin: Auf Anfrage bestätigte das Finanzamt dem Anwalt, dass die Lösegeldzahlung als Betriebsausgabe anerkannt wird.

Sicherheitsbehörden und Technikexperten raten indes ab, sich auf die Forderungen von Hackern einzulassen. „Das bestärkt nur die Erpresser in ihrem Tun und liefert ihnen zudem das Finanzpolster für künftige Attacken“, sagt Derk Fischer, Spezialist beim Beratungsunternehmen PwC. In mehr als der Hälfte der untersuchten Fälle bekamen die Erpressten zudem, trotz Zahlung, keinen Entsperrcode, ermittelte das Sicherheitsunternehmen Symantec.

Nicht alle Sicherheitslücken sind aber selbst verschuldet: Das Netz wurde von Anfang so gebaut, dass es nie völlig sicher sein kann. Einst wurde es als „dumme“ Leitung konzipiert und sollte nur dem Datentransport dienen. Dafür sollten seine Außenposten „intelligent“ gesteuert werden, also die daran angeschlossenen Computer. Nur: In der Welt seiner Erfinder kam nicht vor, dass eines Tages User andere User angreifen würden. Genau das passiert heute aber massenweise. Hinzu kommt, dass IT-Unternehmen wie Microsoft regelmäßig Software verkaufen, die Lücken aufweist. Und die Geheimdienste sind auch mit im Spiel. Sie horten gerne Sicherheitslücken, um sie für ihre eigene Spionage zu nutzen - bis Hacker davon mitbekommen. So lief auch der WannaCry-Raubzug an.

Weil die Angriffe „immer versierter und gefährlicher“ würden, müsse Digitalisierung in der Politik und in jedem Unternehmen „zur Chefsache werden“, verlangt nun der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) Dieter Kempf. Arne Schönbohm, Präsident des BSI und damit Deutschlands oberster Anti-Cybercrime-Kämpfer, spielt den Ball freilich ein Stück weit zurück: „Es wird höchste Zeit, dass die deutsche Wirtschaft auf breiter Front nicht mehr bloß über digitale Strategien wie den Aufbruch ins Zeitalter von Internet 4.0 spricht“, sagt er. Beim bisherigen Risikobewusstsein werde ihm „angst und bange“. Konkrete Pläne hat er zuhauf: Hard- und Softwarehersteller sollten endlich für Sicherheitsprobleme und Schäden in Haftung genommen werden. Mobiltelefone, deren Sicherheitslücken nicht geschlossen werden können, sollen mithilfe der Verbraucherzentralen vom Markt verschwinden. Und der BSI-Chef verlangt ein Gütesiegel, das bescheinigt, wie gut ein Gerät vor Angriffen geschützt ist. Damit die Forderungen auch Wirklichkeit werden, bräuchte er Rückendeckung aus Berlin. Doch dort herrscht Kompetenzgerangel.

Schon vor zwei Jahren wurde ein IT-Sicherheitsgesetz ersonnen. Es macht Energie- und Wasserversorgern, Lebensmittelkonzernen oder Telekommunikationsanbietern, die allesamt als Betreiber „kritischer Infrastrukturen“ eingestuft wurden, detaillierte Vorgaben zum Umgang mit IT-Angriffen. Doch Bundesverkehrs- und Bundesinnenministerium konnten sich nicht einigen, ob die Logistikbranche eine „kritische Infrastruktur“ ist. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) drängte darauf, Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) bremste. Das Gesetz kommt nicht voran. In diesen Tagen geben sich die Unterhändler aus beiden Ministerien nun zuversichtlich. Die Gespräche liefen so gut, dass eine Lösung vielleicht bis kommende Woche möglich sei.

2. Akt: In Zeitlupe Richtung Zukunft

Handwerksmesse in München. Die Kanzlerin ist da. Beim Spitzengespräch der Deutschen Wirtschaft diskutiert Angela Merkel Mitte März mit den Chefs der großen deutschen Unternehmensverbände, was die Wirtschaft zukunftsfähig macht. Weiter hinten im Saal sitzt Bertram Kawlath, Unternehmer aus dem thüringischen Bad Lobenstein. Als Merkel bemängelt, der deutsche Mittelstand nutze die Chancen der Digitalisierung noch zu zögerlich, kann der 46-Jährige einen Fluch kaum unterdrücken.

Kawlath ist Chef des auf Stahlfeinguss spezialisierten Unternehmens Schubert & Salzer. Dessen Produkte stecken in komplexen Geräten - von Operationstischen bis zu ICE-Kupplungen. Das Heimatörtchen im Saale-Orla-Kreis zählt 6000 Einwohner, viel Wald, gute Luft und ein mit den Mitteln des Aufbau Ost aufpoliertes Gewerbegebiet. Nur an einer Stelle hapert es: „Wie soll ich denn digitalisieren“, fragt Kawlath, „wenn ich den Internetanschluss meines Unternehmens mit den Mietern von drei Plattenbau-Wohnblocks teilen muss?“ Und so stellt Kawlath wie unzählige weitere mittelständische Unternehmer fest: Das Internet ist in seiner Architektur nicht nur chronisch unsicher, es ist in Deutschland auch zu langsam.

Via Web mit Kunden und Zulieferern zusammenarbeiten, 3-D-Konstruktionsdaten austauschen, Daten in der Cloud verarbeiten und die Mitarbeiter online schulen - Kawlath hat durchgerechnet, welche Effizienzsprünge und Wettbewerbsvorteile das Internetzeitalter seinem Unternehmen bieten könnte. Und wie schnell dafür das Internet sein müsste: „Ein Gigabit pro Sekunde sollte es sein, sparsam gerechnet“, sagt er. Und fügt hinzu: „Wir haben gerade mal ein Hundertstel!“

Es ist peinlich: So gut wie alle OECD-Staaten konzentrieren ihre Investitionen auf Glasfasernetze und bauen dringend benötigte Überholspuren für ihre Datenautobahnen, stellte kürzlich eine Studie der Bertelsmann Stiftung fest. Nur die Glasfaser, bis direkt ins Haus verlegt, bringt genug Power, damit Fabriken vernetzt werden können, gigantische Datenmengen ungehindert fließen können. Aber Deutschland ignoriert als einziges Industrieland die Glasfasertechniken in weiten Teilen und konzentriert sich auf die veraltete Kupfertechnik, die der ehemalige Monopolist Deutsche Telekom vorantreibt. Das ist ein wenig, als hätte man nach Aufkommen des Autos die vorhandenen Feldwege ein wenig ausgebessert, anstatt gänzlich neue Autobahnen zu bauen.

Deutschland liegt mit einem Anteil von knapp zwei Prozent europaweit lediglich auf dem vorletzten Platz, wenn es um Glasfaseranschlüsse geht. „Das eigentliche Drama ist, dass der Aufholprozess durch politische Weichenstellungen unzureichend unterstützt wird“, kritisiert Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung.

Viel zu lange vertraute man in Berlin den Bedarfsprognosen der Telekom, die den alten, viel zu langsamen Kupferleitungen eine Existenzberechtigung bis weit ins nächste Jahrzehnt bescheinigten. Das Heilsversprechen aus Bonn: Durch eine deutlich günstigere Technik, Vectoring genannt, werde das Kupferkabel so aufgemotzt, dass alle Infrastrukturprobleme behoben werden könnten. Inzwischen zeigt sich, dass Vectoring bei Weitem nicht ausreicht. Die Datenmengen, die der Mittelstand braucht, sind so nicht übertragbar. Deswegen hatte auch Minister Dobrindt den Ausbau des Glasfasernetzes Ende vergangenen Jahres in ein Eckpunktepapier zur Gigabitstrategie gefügt. Eigentlich. Doch dann intervenierte Telekom-Chef Timotheus Höttges. In den bereits ausgearbeiteten Entwurf setzte Höttges in letzter Sekunde noch eine kleine, aber wichtige Änderung der Gigabit-Ziele durch: „Wir wollen weitgehend flächendeckend Haushalten, Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen gigabitfähige Anschlüsse bereitstellen“, stand in der Beschlussvorlage. In der Endversion hieß es dann: „Wir wollen eine gigabitfähige konvergente Infrastruktur“. Der Telekom öffnete sich dadurch die Hintertür, das Gigabit-Ziel auch durch einen Technologiemix aus leitungsgebundenen und mobilen Netzen zu erreichen.

Dabei spürt selbst die Bundeskanzlerin mittlerweile, dass sich in Deutschland eine gefährliche Infrastrukturlücke auftut. Beim Antrittsbesuch des neuen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron vergangenen Montag in Berlin rückte die Gründung eines Investitionsfonds für digitale Infrastrukturen ganz oben auf die Tagesordnung. Wie schlagkräftig der wird, ist noch offen. Unter anderem auch, weil es in Berlin ungefähr so viele Zuständige wie Ideen für das Thema Digitalisierung gibt.

Verkehrsminister Dobrindt etwa kümmert sich zwar als Einziger darum, Milliarden in die digitale Infrastruktur zu verbauen. Doch ansonsten verteilen sich nicht minder wichtige Themen auf andere Ressorts: Das Wirtschaftsministerium kümmert sich um WLAN-Hot-Spots, das Innenministerium um Cybersicherheit, das Justizministerium um Datenschutz, und das Forschungsministerium beansprucht Innovationsthemen für sich.

Die Folge sind lauter Kompromisse voller Minimalambitionen. Zum Beispiel in der „Digitalen Agenda“ der Bundesregierung. „Bis zum Jahr 2018 soll es in Deutschland eine flächendeckende Grundversorgung mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde geben“, versprachen Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag. Fast vier Jahre ist das nun her, und Infrastrukturminister Dobrindt tut so, als käme das Projekt gut voran. „Schnelles Internet für alle. Überall. Deutschland kann das“, verbreitet der Minister auf seiner Webseite.

In Wirklichkeit aber wird die Bundesregierung selbst dieses Miniziel verfehlen, weil Dobrindt nie nachfasst. Derzeit haben erst etwa 75 Prozent aller Haushalte, so die jüngsten Erhebungen, einen Zugang zu einem 50-Megabit-Anschluss - und damit zu wenig, um in den verbleibenden anderthalb Jahren die 100-Prozent-Marke zu knacken. Vor allem in den ländlichen Regionen müssen die meisten Haushalte noch länger auf einen 50-Megabit-Anschluss warten. Erst ein Drittel kann sich heute solch einen Turbo bestellen. Wo besonders große Lücken klaffen? In den Gewerbegebieten.

Die Lage ist so schlimm, dass sogar CDU- und SPD-Bundestagsabgeordnete dem Minister ein schlechtes Zeugnis ausstellen. „Herr Dobrindt ist mit dem Förderprogramm zum Breitbandausbau Ende 2015 erst sehr spät aus den Startlöchern gekommen“, kritisiert Sören Bartol, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Und Carsten Linnemann, Mittelstandsbeauftragter der CDU, beklagt, dass die Bundesregierung auf das „rückständige Vectoring“ setze, statt „moderne Glasfasertechnologie“ zu fördern.

Ausbaden aber müssen es Mittelständler wie Kawlath, deren Väter oder Großväter vor Jahrzehnten Familienbetriebe in strukturschwachen Regionen gründeten und inzwischen als Hidden Champions ihre Produkte in alle Welt verkaufen. In einigen Regionen ist der Internetnotstand schon so groß, dass ganze Existenzen bedroht werden. Die von Jan Butze etwa, Gewinner des Großen Preises des Mittelstands. Der Vorzeigeunternehmer betreibt in der sächsischen Gemeinde Klingenberg einen Fachgroßhandel für Sauberkeit & Hygiene sowie das Hotel Neue Höhe. Versicherungs- und Automobilkonzerne veranstalten hier Schulungen für Vertriebsmitarbeiter, wollen auch Videokonferenzen schalten und über den WLAN-Hotspot mit dem Büro verbunden bleiben. „Doch die Bandbreite von maximal zwei bis vier Megabit reicht einfach nicht aus“, schimpft Butze. „Wir brauchen dringend Glasfaser.“

Die Gemeinde hat eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Aber Butze sagt: „Uns rennt die Zeit weg.“ Sein Fachgroßhandel weicht schon auf die Nachtstunden aus, um alle Daten, die er zum Betrieb des Geschäfts braucht, zu sichern. Doch auch das dauert zu lange. „Wenn ich morgens ins Büro komme, läuft der Datentransfer immer noch.“

Lars Dörrbecker aus dem nordhessischen Lichtenfels-Rhadern erwägt, seinen Firmensitz sogar gleich ganz zu verlagern. Erst vor neun Jahren gründete er seinen Lastwagenvertrieb Trucktat. Aber am Sitz seiner Firma liefert die Telekom maximal 1,0 bis 1,5 Megabit pro Sekunde - und das auch nur, wenn sie mehrere alte ISDN-Leitungen zusammenschaltet. „Uns hat man ganz vergessen“, sagt der 45-jährige Unternehmer, der seine 150 Sattelzugmaschinen und Auflieger vorwiegend über Anfragen aus dem Web vermietet. „Dabei ist gerade gutes Marketing in den sozialen Netzen für uns wichtig“, sagt Dörrbecker. „Doch die einfachsten Dinge funktionieren bei so einer langsamen Leitung nicht.“ Auch seine Gemeinde kennt das Problem, aber eine Lösung ist nicht in Sicht.

Selbst große Mittelständler wie der Ventilatorenbauer ebm-papst im württembergischen Mulfingen mit seinen weltweit rund 13 000 Mitarbeitern klagen über fehlende Anschlüsse und unwillige Telekommunikationskonzerne. Als vor anderthalb Jahren Gasleitungen verlegt wurden, nutzte das Unternehmen zwar die Gelegenheit, 20 Kilometer Glasfaserkabel auf eigene Kosten gleich mit einzubauen. Doch damit sind nur die eigenen Standorte angebunden. Der Weg nach draußen bleibt schwierig.

Ebm-papst kann zwar mit mehr als 500 Megabit pro Sekunde mehr Daten übertragen als die meisten Unternehmen. Doch für Hightechunternehmen ist das noch immer zu wenig. „Wir müssen unsere IT-Strategie danach ausrichten, dass wir unsere Daten nicht in ausreichender Geschwindigkeit und Menge nach draußen bekommen“, sagt IT-Leiter Oliver Kühnle.

Hessen, Baden-Württemberg, Thüringen - die Wut in der Wirtschaft hat sich aufgestaut: „Deutschland muss endlich vom Nachzügler zum Schrittmacher werden“, fordert Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BVMW). Und eine von der WirtschaftsWoche gemeinsam mit der Boston Consulting Group durchgeführte Umfrage unter den „Vordenkern“, einer Community junger Führungskräfte, ergab: 44 Prozent der Unternehmen würde sich am Ausbau des Glasfasers beteiligen, wenn dieses bis direkt ins Büro oder in die Fabrik verlegt würde. Kein Wunder: „Die Digitalisierung spaltet die Unternehmenslandschaft derzeit. Beinahe einem Drittel der Unternehmen in Deutschland droht, von den digitalen Spitzenreitern in den unterschiedlichen Branchen abgehängt zu werden“, sagt BCG-Digitalexperte Michael Grebe.

Dabei zeigen die digitalen Spitzenreiter in Europa, dass es auch ohne solche Probleme geht. Schweden zum Beispiel ist mit einer Versorgungsquote von 40 Prozent einer der Vorreiter beim Glasfaserausbau. Wie Straßen, Wasser und Strom ist auch der hauseigene Glasfaseranschluss zentraler Bestandteil der Daseinsvorsorge, die eine Kommune bereitstellt. Der Staat ist Bauherr und Eigentümer des Netzes und vermietet seine Leitungen günstig an die privaten Telekomgesellschaften. Im Großraum Stockholm etwa sind so inzwischen 98,7 Prozent der Fläche vom kommunalen Glasfaserversorger Stokab abgedeckt. Der Versorger arbeitet profitabel, obwohl ein 100-Megabit-Anschluss nur 15 Euro und der Gigabit-Anschluss in Stockholm nur 25 Euro kostet. Die Gebühren sind so günstig, weil es keinen Infrastrukturwettbewerb gibt.

Die Internetaktivisten Daniel Berg und Anke Domscheit-Berg finden das Modell so überzeugend, dass sie es nach Deutschland holen und mit Kommunen das „erste neutrale Glasfasernetz“ bauen wollen.

Digitalisierung für alle - aber wie?

Aber selbst wenn wundersamerweise Politik und Netzanbieter gemeinsam mit der Wirtschaft den Ausbau zu jedem einzelnen kleinen Unternehmen in der kommenden Legislaturperiode vorantreiben würden - gelöst wären Deutschlands Probleme mit dem Netz dann noch lange nicht. Digitalisierung funktioniert nur, das hat man in Berlin wohl immer noch nicht ganz verstanden, wenn die gesamte Gesellschaft Zugriff darauf hat.

Das spürt derzeit Sonja Roth, Zentralbereichsleiterin Personal bei der Harting Technologiegruppe, besonders. 4300 Menschen weltweit beschäftigt das auf industrielle Verbindungstechnik spezialisierte Familienunternehmen aus dem nordrhein-westfälischen Espelkamp. Roth sagt Sätze wie aus dem Digitalisierungslehrbuch: „Natürlich sind flexibles Arbeiten in der Firma und im Homeoffice für uns ebenso ein Thema, wie das Angebot an die Beschäftigten, auch daheim auf unsere Qualifikationsangebote im Intranet zuzugreifen.“ Das Problem sei nur, dass „gerade in kleineren Weilern hier in der Region die Onlinezugänge mancher Mitarbeiter schlicht viel zu langsam sind, als dass sie diese Angebote auch nutzen könnten“.

Was Roth besonders sorgt: Bewerbern und speziell jenen, die für die Entwicklung digitaler Wachstumsgeschäfte sorgen sollen, sei die Frage nach dem heimischen Netzzugang inzwischen genauso wichtig wie die nach der Verkehrsanbindung oder ob es gute Schulen für die Kinder in der Nähe gibt. Sie kann ihnen das weder bieten noch selber bauen. Und wenn die Talente ausbleiben, kann Schlimmeres eigentlich nicht mehr kommen. Außer, dass Experten schon vor der nächsten Hackerattacke mit einem WannaCry-Nachfolger warnen.

Co-Autoren: Henryk Hielscher, Michael Kroker, Thomas Kuhn, Christian Schlesiger, Silke Wettach

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